Bevor ich nach England kam...
...lebte ich acht Jahre lang in Moskau. Jetzt muss ich mich outen: Moskau ist meine Heimatstadt.
Traum oder Realität? Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz schwimmt in der Pfütze Foto: alm
Ich bin einerseits ein "waschechter" Russe und andererseits ein Europäer, der sich auch in Hamburg und London zu Hause fühlt. Dostojewski, der neben St. Petersburg bekanntlich auch Baden-Baden sehr geschätzt hatte, sagte: "Reibe an einem Russen, und ein Tatare kommt zum Vorschein", aber es ist in meinem Fall nicht wahr. Meine Mutter kommt von der russischen Insel Sachalin nicht weit
von Japan, also würden Sie eher einen Koreaner freirubbeln (das lasse ich Sie aber nicht).
Ich wurde vor etwa 40 Jahren im Dorf namens "Prawda" (Wahrheit) knapp außerhalb der Dunstglocke der sowjetischen Millionenmetropole geboren. Mit drei Jahren zog ich mit meiner Familie in den unter Journalisten beliebten Moskauer Stadtteil Ostankino, wo die Wahrheit im Staatlichen Fernsehzentrum je nach Bestelltung des Politbüros interpretiert wurde. Einmal hatten die uns erzählt, dass die kleine "technische Störung" im Atomkraftwerk Tschernobyl... aber das ist eine andere Geschichte. Russland, meine Heimat, war journalistisch gesehen ein Riesenabenteuer.
Meine aufregende, anarchische, herzerweichende, unbegreifliche Heimat war auch ein "Rätsel, eingepackt in ein Mysterium, mitten in einem Geheimnis" (okay, der Spruch ist von Churchill und
60 Jahre alt, aber ich finde ihn gut). Schließlich war Russland nicht immer lustig. Wenn ich an das zerbombte Grosny oder die Schulruine in Beslan denke... Das exzessive, sinn- und ziellose Leben mancher Russen war ein anderes Problem. Wie einmal eine Moskauer Schriftstellerin beklagte: "Russland ist das irrealste Land der Welt. Alle hängen in der Luft. Das Leben ist wie ein Phantom".
In Deutschland dagegen würden die Häuser auf der Erde stehen, lobte die Frau, die von der "zuverlässigen Realität" irgendwo in Cloppenburg oder Dedenhausen offensichtlich ganz angetan war. "Aber wo würden die Häuser in England stehen?", fragte ich mich, als ich 2006 am Handy auf dem Spielplatz vor meinem Haus am "Kutu" stehend von meiner Versetzung als Korrespondent nach Großbritannien erfuhr. Tja, wo stehen sie nun? Also, das Haus meines Freundes und Kollegen Wolfgang Koydl steht in einem grünen Paradies namens Richmond Park. Dafür ist mein Haus genau 660 Meter von der Themse entfernt (bei Google Earth gemessen). Darum, und weil das Leben
als ein wilder Strom von Ereignissen uns alle zu paddelnden Kanufahrern macht, heißt dieser Blog "Alles im Fluss".