Fußball-WM im Pub. Hooligans werden bald mit Lutschern besänftigt. Fotos: almKeine Zeit, um die Kinder von der Schule abzuholen. Das Joggen, der Kinobesuch, der angefangene Krimi, das Grillen im Garten – all das ist unwichtig. Denn ich brauche jetzt jede freie Minute, um in den Londoner Supermärkten das neue, singende WM-Butterbrot zu suchen. Jawoll, den Tesco Jalapeno Chicken Sandwich, der„Ole ole ole ole“ grölt, wenn man seiner Plastikverpackung aufmacht. Ob die Mischung aus Toastbrot mit Hühnchen, Senf, und Tabasco-Sauße schmeckt, ist unwichtig. Das musikalische Fußball-Brot ist einProdukt, ohne das ich mir die Weltmeisterschaft nicht mehr vorstellen kann.
Vielleicht bin ich verrückt geworden. So wie jene 15 Briten aus West Yorkshire, die vor dem WM-Beginn offiziell ihre Namen in „Wayne Rooney“ ändern ließen. Männer wie Frauen. Sie alle arbeiten in einem Pub namens „Bay Horse“, wenn jetzt dort ein Kunde am Tresen „Wayne!“ ruft, dann kommen alle angerannt. „Das ist sehr lustig“, sagt eine blonde Wayne Rooney dem Reporter von Sky News. „Wir wollten damit unsere Jungs in Südafrika unterstützen“, erklärt ein anderer Wayne Rooney. Der Pubbesitzer und dessen Gattin heißen jetzt übrigens beide Fabio Capello. Für Fußball-Banausen: Das ist Englands italienischer Nationaltrainer, der nach dem Ausfall des Kapitäns Rio Ferdinand mit den folgenden Worten zitiert wurde (Original-Schreibweise beibehalten): “Disa disasta whatta befall to oura glorious ex-captain. Let’s touchie di wood thata it not happen to anyone else in the team”. OK, Capello hat das nicht wirklich gesagt, aber der Akzent ist gut wiedergegeben.
“Ole ole ole ole”: Ich will unbedingt diesen singenden WM-Sandwich kaufenIch will hier ein wenig von dem WM-Fieber im Mutterland des Fußballs erzählen. Seit einer Studie 2007 wissen wir, dass ein „normaler“ englischer Fan im Schnitt 80 Mal am Tag an „Football“ denkt oder einmal alle 12 Minuten – übrigens sehr viel häufiger als an Sex. Sieben Prozent der sportbegeisterten englischen Männer phantasieren 900 Mal am Tag vom Geschehen auf dem Rasen. Ich fürchte, viele Menschen um mich herum haben sich jetzt in solche Fanatiker verwandelt. 71 Prozent der Briten wollen die WM gucken. 25 000 fliegen nach Südafrika. Gestern und heute verabschiedete der Flughafen Heathrow jeweils 2000 abfliegende Helden-Fans mit einem aufblasbaren Fußballtor und einer Band, die den 1914er Militärmarsch „Colonel Bogey“ aus „Die Brücke am Kwai“ munter blies. Selbst einige Schotten, die ihre Nachbarn im Süden nicht besonders mögen, brechen unter rotweißen englischen Fahnen nach Afrika auf. So sehr aus dem Häuschen sind die Briten über die WM, dass jetzt ihr Botschafter in Washington, Sir Nigel Sheinwald, mit dem US-Botschafter in London öffentlich eine Wette abgeschlossen hat: Wer bei dem England-USA-Auftakt am Samstag verliert, muss seinen Amtskollegen zu einem Steakessen einladen. Der Brite geht freilich nicht viel Risiko ein.
Sorry, ich muss mich korrigieren: Sir Nigel ist ein unverbesserlicher Optimist. England mag jetzt fußballerisch stark sein, allerdings ist es auch berüchtigt für die unerklärlichen Abstürze seines Nationalteams, die den Fans viel Leid bereitet haben. Nicht umsonst gibt es im Text der kämpferisch gerappten WM-2010-Hymne „Shout For England“ von Dizzee Raskal folgende spöttische Zeilen: „Schluss mit der Prahlerei über das Ergebnis vor 40 Jahren, es ist höchste Zeit, wir wollen den Sieg sehen, solange wir noch leben“ (frei übersetzt). Die Uni Exeter hat zur WM in einer Serie von Experimenten die beste Strategie für die chronisch glücklosen englischen Elfmeterschützen herausgefunden: „Nicht auf den Torwart schauen, sonst trifft man ihn“. (Kann das bitte jemand Jogi Löw sagen?) So wichtig ist der Sieg für die Inselbewohner, dass auch das Königshaus nichts dem Zufall überlassen will. Die Queen schickt die Prinzen Harry und William zum Spiel gegen Algerien am 18. Juni in Cape Town, damit ihre Enkel die Moral der Nationalelf steigern können. Hoffentlich werden sie nicht enttäuscht sein.
Vorsichtshalber gibt der BBC seinen Zuschauern Tipps, wie sie bei heimischen WM-Partys am besten die Misserfolge ihrer Mannschaft verkraften können. Angeblich sollen Computer-Fußballspiele gut gegen den Frust helfen. Ich habe Zweifel daran. Die Polizei auch. Denn das Innenministerium bereitet sich auf eine Katastrophensituation vor, falls England zu früh ausscheiden sollte. Nach Regierungsangaben wuchs die Gewalt auf den britischen Straßen und in den Wohnstuben früher jedes Mal um 25 Prozent, wenn England gespielt hat. An „schwarzen Tagen“ für die Nationalelf sei die Zahl der Straftaten sogar jeweils um 30 Prozent gestiegen, heißt es. Was tun gegen die besoffenen Hooligans? Die Behörden im Londoner Stadtteil Sutton haben eine neue Präventionsstrategie entwickelt: Sie wollen in den WM-Tagen unter den besonders wütenden Fans in den Pubs 5 000 zuckersüße Lutscher verteilen. „Wenn jemand ein Bonbon lutscht, wird er nicht an Gewalt denken“, sagt ein Behördensprecher. Na ja, ich weiß nicht… Auch das Außenministerium scheint nicht überzeugt. Zumindest steht im offiziellen „WM-Begleitbuch“ für reisende Fans nichts von Lutschern. „Besorgen Sie sich eine gute Reiseversicherung und trinken Sie in Maßen“, empfehlen die Diplomaten ihren Landsleuten in Südafrika. Sie stellen auch klar, dass die Regierung weder verlorene Eintrittskarten erstatten noch die britischen Randalierer aus dem Knast herausholen wird.
Ob hier auch ein paar Wayne Rooneys wohnen? Briten im FußballrauschVielleicht haben die Skeptiker ja Unrecht, und es wird ein großes Fußballjahr für England werden? Darauf hofft der britische Premier David Cameron, der sich den Kopf über den dringend benötigten Wirtschaftsaufschwung zerbricht. Es ist bewiesen, dass Fußballerfolge die Wirtschaftskraft der Nationen stärken können. Britische Experten rechnen mit einem Extra-Wachstum von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, wenn Capellos Truppe gewinnt. 31 Prozent der Briten wollen für die WM zusätzliche Alkoholvorräte anlegen, 29 Prozent kaufen extra Essen für die Fußballabende ein, 23 Prozent wollen ihr Geld in Wettbüros lassen. Sollte England die Nummer Eins werden, würde der Einzelhandel seine Umsätze um zwei Milliarden Pfund zusätzlich steigern können, rechnen die Analysten vor. Cameron tauscht übrigens für die Dauer der WM die britische “Union Flag” über der Downing Street zehn durch die rotweiße England-Flagge aus. Er bat gestern alle Abgeordneten in Westminster, in den kommenden Wochen zu patriotischen Zwecken “Come on England!” zu schreien. Wer sagt, dass Politik nicht lustig sein kann?
Ich muss an dieser Stelle eine Einschränkung machen: Es gibt sie wohl, die unsportlichen Menschen, die den Fußballrausch nicht teilen. Es sind aber nicht viele. Ich habe beim Londoner „Guardian“ einen Kolumnisten gefunden, der über die landesweite Euphorie jammert. Heute habe ich gelesen, dass das Hotel Linthwaite House in Nordengland sich zur fußballfreien Zone erklärt hat. Das bedeutet: Kein Fernsehen, keine Sportbeilagen in den Morgenzeitungen und ein striktes Verbot für das Personal, in den Gesprächen mit den Gästen die WM auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Wer gegen die Regeln verstößt, muss eine Runde Champagner für die anderen ausgeben. Spielverderber!