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Snowdon Mountain Railway in Wales. Fotos: almDie Briten sind verrückt nach dem Bahnfahren. Fragen Sie die Queen, die gerne mit ihrem Königlichen Zug verreist und oft auf einem Nebengleis übernachtet. England hat der Welt die Dampflok und das Gleis geschenkt. In Stockton wurde 1825 die weltweit erste öffentliche Bahnlinie eröffnet. 71 Jahre später ließen viktorianische Ingenieure einen Waggon mit ein paar Freiwilligen von einer Lokomotive einen Berg hochschieben. Dieser einstündige Ausflug in 1085 Meter Höhe mit der Snowdon Mountain Railway wird in vielen Reisebüchern als die „spektakulärste Bahnfahrt ihres Lebens“ beschrieben. So etwas konnte ich mir als Korrespondent nicht entgehen lassen.
In einer Dampfwolke setzt sich die Lok am Bahnhof Llanberis langsam in Bewegung. Ohne mich. 114 Jahre nach der ersten Zugreise auf den höchsten Berg des Königreichs südlich der Highlands bleibt das viktorianische Bahnabenteuer bei den Briten so populär, dass sämtliche Fahrten vier Tage im Voraus ausgebucht sind. Auch der junge Mann vor mir hat vergeblich angestanden. Sean aus Exeter ist sauer. „Weißt du was, Kumpel“, sagt der 28-Jährige entschlossen, „wir laufen den verdammten Berg entlang der Bahnlinie hoch. Dann fühlen wir uns so, wie wenn wir im Zug sitzen würden“.
Das Wandern ist des Briten Lust. „Außerdem sparen wir 25 Pfund für das Ticket“, sagt fröhlich Sean, der schottische Wurzeln haben muss. Während die Lok einen feuerwehrroten viktorianischen Waggon an einem Wasserfall vorbei schiebt, trollen wir los. „Die Waliser nennen den Berg Yr Wyddfa, weil hier der von König Arthus erschlagener Riese Rhita Fawr begraben liegt, der zuvor allen von ihm erschlagenen Königen die Bärte abgeschnitten und sich einen Umhang daraus genäht hat“, erzählt mein Begleiter. „Schau, unter der Bergspitze fährt ein zweiter Zug“, deute ich auf ein Rauchwölkchen. „Ganz schön weit“, stöhnt Sean. Fünf Stunden braucht man angeblich für die acht Kilometer auf dem unebenen Pfad. Es ist Nachmittag, also gehen wir schneller, um vor Sonnenuntergang wieder unten zu sein.
Snowdon ein Berg der Superlative. Hier tummeln sich die meisten Wanderer, und mit jährlich 4500 Millimeter Regen ist es hier so feucht wie kaum irgendwo sonst auf der Insel. Edmund Hilary übte auf dem „Grab“ von Rhita Fawr seine spätere Everest-Besteigung. Minenarbeiter gruben unterhalb des Gipfels Stollen, um Kupfer zu fördern, das sie im unheimlichen schwarzen Wasser des Bergsees Llyn Du’r Ardu wuschen. Über uns hüllen sich die braunen Hänge in Wolken. Wir aber wandern durch Duftwolken von Schafskot. Etwas schnauft hinter meinem Rücken. „Kommt der Zug?“, frage ich, ohne mich umzudrehen. „Nein, das bin ich“, gibt Sean zu.
540 Meter: Das Hemd klebt am Körper. Die Läufer beim Internationalen Snowdon-Rennen brauchen etwa 1,5 Stunden bis zur Spitze und zurück. So lange sind wir jetzt unterwegs. Im Mini-Cafe auf halber Strecke, wo Sean gierig einen Liter Wasser trinkt, sehe ich an der Wand einen Zeitungsartikel mit der Überschrift „Bleibt weg von diesem Todesberg“. Im Winter, wenn Schnee und Eis die „schwarzen Klippen“ bedecken, wird Snowdon nicht nur für Märchenriesen, sondern auch für Menschen gefährlich. Der Zug holt uns wieder ein. Die Passagiere winken zwei schweißgebadeten Wanderern aus den Fenstern zu. Wir scheinen die einzigen zu sein, die sich hochquälen.
776 Meter: Das letzte Hindernis ist der steile „Moseshügel“. Ich weiß nicht, wie die 70 Jahre alte Lokomotive die 18-prozentige Steigerung schafft. 2,5 Stunden und 11 000 Schritte nach dem Aufbruch stehen wir auf dem Berg inmitten von polnischen Touristen und schnappen nach Luft. „Du bist hier näher am Paradies“, steht gemeißelt in der Wand des Besucherzentrums. Ich bin mir nicht so sicher.
An klaren Tagen kann man vom Snowdon 14 Gipfel und die irische Küste sehen. So viel Glück haben wir nicht. Trotzdem ist das Panorama atemberaubend schön. Sean verabschiedet sich, um vom höchstgelegenen Postamt des Landes eine Karte an seine Freundin zu schicken. Ich habe noch Hoffnung, im nächsten Zug nach unten einen Platz zu kriegen. „Sorry, Sir“, sagt bedauernd der Lokführer. Also geht es wieder zu Fuß nach Llanberis. 12 000 Schritte später knicken die Beine ein, zum Glück ist in der Ferne schon mein Auto zu sehen. Bye, bye, Berg des toten Riesen – mich siehst du so bald nicht wieder!