Der “Knight Warrior” sorgt für Gerechtigkeit in Salford. Foto: Jacob Russel„Die Nacht hat tausend Augen…“, wusste der viktorianische Dichter Francis William Bourdillon. Aber fürchten Sie sich nicht, wenn Sie sich bei Ihrem London-Besuch im Dunkeln beobachtet fühlen. Denn die englische Nacht gehört nicht nur den Betrunkenen und Dieben, sondern auch einem Häufchen Schatten, die lautlos durch die Straßen gleiten, um das Böse zu bekämpfen. Tagsüber sind sie unverdächtige Gärtner, Banker und Pfleger. Doch wenn die Big-Ben-Uhr zehn schlägt, schlüpfen sie in ihre exotischen Kostüme, die bei anderen Menschen Gänsehaut oder Lachkrämpfe auslösen können. Dies ist die Geschichte der „wahren“ Superhelden, deren Abenteuer man nie im Kino sehen wird.
In der verrückten Welt der „real life superheroes“ (RLSH) ist nichts so, wie es zu sein scheint. Manche Clowns in Maske und Umhang, die sich als Helden ausgeben, wollen lediglich ihre Freunde belustigen. Doch etwa 26 Briten führen derzeit ein Doppelleben als „anerkannte“ Kämpfer für Ordnung und Gerechtigkeit in ihren Städten. Manche „Schatten“ sind seit Jahren in ihren geheimen Missionen unterwegs. Andere haben sich 2011 vom Medienwirbel um die US-Gruppe „Rain City Superheroes“ aus Seattle zu edlen Taten inspirieren lassen und kämpfen um Anerkennung.
Der 33-jährige Ken Andre aus Somerset gehört zu den Veteranen seiner Zunft. Der Wachmann in einem Sicherheitsdienst patrouilliert seit 2005 als „the Shadow“ (der Schatten) die Straßen seines Städtchens Yeovil. Der in Schwarz gekleidete Andre ist ein Ninja-Fan, weswegen er gerne die Gewalttäter und Randalierer mit Rauchbomben, Kampfschreien und seiner täuschend echt wirkenden Samuraischwert-Attrappe verscheucht. Seine Frau Leigh findet das ganz normal. Genau wie die 61-jährige Mutter des „Knight Warrior“ (Ritter Krieger) aus Salford. „Seine Stärke ist seine entwaffnende Güte und Offenheit“, sagt Jennifer Hayhurst über ihren Roger (19). In seinem blauschwarzen Anzug mit Arm- und Knieschutz sieht der arbeitslose Gärtner aus wie Spiderman, der Inline-Skaten gehen will. Dennoch hat es der junge „Ritter“ geschafft, durch seine Hilfe für die Obdachlosen und die Schlichtung von alkoholisierten Streits in den Pubs eine fast fünftausendköpfige Fangemeinde zu begeistern.
Weil sie weder über wahre Superkräfte verfügen noch echte Waffen besitzen, gehen die Superhelden der Mafia aus dem Weg und konzentrieren sich auf Kleinkriminelle. So jagt „Man in Black“ (schwarzer Mann) Drogendealer. Die mysteriöse Schatten-Figur „Vague“ (undeutlich) hat sich als „christlicher Helfer“ auf Schutz der Passanten vor Straßenräubern spezialisiert. Dagegen setzt sich „Captain Ozone“ aus Belfast für die Umwelt ein. Die maskierte rothaarige Rächerin aus London mit dem Namen „Black Arrow“ (schwarzer Pfeil) will Menschen bestrafen, die ihre Haustiere quälen.
Der bekannteste englische Superheld heute ist ein übergewichtiger Mann in Zorro-Maske und im patriotischen Anzug in Union-Jack-Farben, dessen Identität 2011 von der „Sun“ gelüftet wurde. Scott Cooke (26), ein exzentrischer Banker aus Birmingham, hielt lange sein „zweites ich“ vor seiner Familie verborgen, während er als „Statesman“ (Staatsmann) in seiner Stadt für Ordnung gesorgt hat. Seiner Freundin sagte der Amateurboxer Cooke, dass er mit den Kumpels Poker spielen gehe. In einem Videofilm im Internet gesteht „Statesman“, dass er seine Arbeit unmoralisch findet. “Ich vermehre jeden Tag fremdes Geld. Das büße ich ab, indem ich nachts anderen Menschen helfe“.
Cooke beginnt jeden seiner Einsätze nach einem ausgiebigen Abendessen mit einem Blick auf die Karte. „Ich sage mir: Dieses Viertel wird heute ,the Statesman‘ beschützen. Du kannst nicht eine ganze Stadt verändern, aber du kannst jeden Tag einen Teil davon besser machen“. Der bullige Superheld am Steuer eines Fiat Punto hat nach eigenen Worten Einbrecher verscheucht, gemeinsam mit Polizisten Drogenhändler verhaftet und während der August-Krawalle Passanten beschützt.