Auch der britische Nationalheld Horatio Nelson schätzte den "booze": In diesem Dorfpub in Burnham Thorpe feierte der Admiral ein letztes Mal mit Freunden, ehe er in die Schlacht gegen die Spanier bei Trafalgar zog. Passenderweise wurde Nelsons Leiche nach seinem Tod auf dem Schiff für den Rücktransport in die Heimat in einem Fass mit Brandy konserviert.
Als Korrespondent in London hört und liest man viele unglaubliche Geschichten, die zum Lachen und Weinen einladen. Dieses Jahr sind mir zwei besonders in Erinnerung geblieben. In Bristol wurde ein Mann zu 150 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt, weil er seinen Hund mit Bier abgefüllt hatte. Ich kann mir vorstellen, wie es passiert ist: Samstagabend, Fußball in der Glotze und gerade kein Kumpel zur Hand. Der 30-jährige Andrew Wilson ruft seinen Bronx herbei und leert eine Dose „Stella Artois“ in den Hunderachen: „Komm schon, Bronx, schmeckt doch nicht so schlecht. Trinke darauf, dass dieser verdammte Rooney endlich trifft“. Der Bullmastiff habe getorkelt, als die durch die Nachbarn alarmierten Tierärzte eintrafen, hieß es. Der Vierbeiner habe den Drink „dank seines kräftigen Körperbaus“ überlebt. Ich schätze, er dürfte jetzt allerdings auf die Spiele der Premier League nicht gut zu sprechen sein.
Dagegen war die zierliche Rhona Tavener aus Reading nicht robust genug, um die 4,5 Promille in ihrem Blut zu verkraften. Die 16 Jahre alte Schülerin, die nach Auskunft ihrer Eltern immer um Alkohol einen Bogen machte, starb, nachdem sie bei einer Party Smirnoff-Wodka getrunken hatte. Eine Flasche. Pur. Als die betrunkene Rhona aus der Hängematte am Pool im Haus ihres Freundes fiel, erlitt sie einen Herzstillstand. In der hysterischen Berichterstattung über die letzte Nacht im Leben der jungen Engländerin fand ich den immer wiederkehrenden Zusatz „mit glänzendem Abitur“ bemerkenswert. Hätte Rhona eine „drei“ in ihrem Zeugnis gehabt, ihre Geschichte wäre für manche britischen Zeitungen vermutlich weniger tragisch gewesen.
Andrew Wilson wurde im Januar verurteilt. Rhona soff sich im Oktober zu Tode. Dazwischen floss nicht nur viel Wasser die Themse hinunter, sondern auch viel „booze“ (im Deutschen: „Alk“) durch die durstigen britischen Kehlen, und damit meine ich alle im Alter zwischen Grundschule und den „dritten Zähnen“. Denn die Inselbewohner fangen mit dem Zechen früh an. So trinken beispielsweise die Londoner Teenager jede Woche im Schnitt 180 000 Flaschen Bier. Rund 2000 kleine Hauptstadtbewohner werden zurzeit wegen Alkoholismus in Kliniken behandelt. Alle drei Tage müssen Ärzte ein alkoholisiertes Kind unter zehn Jahren vor Vergiftung retten. Als die Polizei in den Sommermonaten damit anfing, bei den Teens ihren „booze“ zu konfiszieren, wussten die Beamten nicht mehr, wohin mit dem hochprozentigen Zeug: Insgesamt 5 171 Liter wurden beschlagnahmt, und 1 829 Väter und Mütter wurden offiziell verwarnt.
Auch ich bekam einen „Das-ist-aber-das-letzte-Mal“-Brief von der Metropolitan Police. Nein, meine Kinder sind erst fünf und sieben, und sie finden Bier „eklig“. Es war ein Versehen: Als ich der „Met“ eröffnete, dass der junge Säufer namens Lance nicht in unserem Haus wohnt, hörte ich Resignation in der Stimme des Beamten. „Haben Sie gehört“, fragte er, „dass die Regierung an Richtlinien arbeitet, wann und wie die Eltern ihre Kids ans Trinken gewöhnen sollen?“ Ja, ich hatte davon gehört. Die Idee, den Erstklässlern ab und zu kleine Dosen von Rotwein, Bier und Whisky zum Mittagessen zu verabreichen, damit sie später nicht zu Alkoholikern werden, fand ich aber sehr befremdlich.
Bei den sentimentalen und irrationalen Russen ist Wodka ein Grundnahrungsmittel, ein Kulturgut und ein Teil der nationalen Identität. Was aber verbindet die Briten mit dem Alkohol? Seit drei Jahren bin ich in England, und ich kann mir noch immer nicht diese innige Liebe erklären. Der Dichter Alexander Pope nannte den Schnaps einen „Fest der Vernunft“, warum nur? Byron war überzeugt, dass ein “vernünftiger Mann” sich betrinken müsse, weil „das Beste im Leben“ der Rausch sei. Hat der Klassiker nicht etwas verpasst? „Das erste Bier für den Durst, das zweite für das Vergnügen, das dritte für die Scham, das vierte für den Wahnsinn“, lehrte der viktorianische Aristokrat und Weltenbummler, Sir Walter Raleigh. Und für George Bernard Shaw war Alkohol die ideale „Anästhesie, um die Operation namens Leben zu überstehen“. Das Leiden der Inselbewohner muss furchtbar sein, weil sie sich so oft und so gründlich betäuben. Weil man im Pub immer ganze Runden spendieren muss, ist das ein teures Vergnügen. Ein Durchschnittsbrite gibt im Laufe seines Lebens umgerechnet 45 400 Euro aus, um den Alkoholdurst seiner Kumpels zu stillen. Dabei bleibt er natürlich selbst niemals „trocken“.
Für ihren „booze“ sind die Briten bereit, bis ans Ende der Welt zu gehen. Im Januar startet eine Expedition zum Südpol, die zwei Kisten des 101 Jahre alten, tiefgefrorenen Whisky von Ernest Shackleton unter dem Eis bergen will. Der berühmte englische Polarforscher hatte in der gescheiterten Expedition 1907 bis 1909 einen großen Vorrat seines Lieblingsgetränks der Marke McKinlay mitgenommen. Shackleton hatte einen Teil davon in seinem Basislager Cape Royds vergessen, als sein Team 160 Kilometer vor dem Ziel wegen ungünstiger Wetterbedingungen umkehren musste. Der Whisky wurde vor drei Jahren entdeckt, nun soll er ausgegraben werden. Gelingt die Alkohol-Expedition, wollen die Schotten die längst vergessene McKinlay-Sorte „Rare Old“ kopieren und auf den Markt bringen. Ich gebe zu: Ich würde den Eis-Whisky gerne probieren. Nur ein Schlückchen…
Nachtrag: Nach neuen Schätzungen der Organisation "Drinkaware" werden die Briten diese Weihnachten und beim Jahreswechsel wieder 265 Millionen Pints (568 ml) Bier und 602 Millionen Gläser Wodka leeren. O Stille, heilige, feuchtfröhliche Nacht!