Olympisches London: gut organisiertes Chaos. Fotos: almJetzt bin ich seit Tagen unterwegs in London, der Stadt im olympischen Ausnahmezustand. Mein temporärer Arbeitsplatz ist eine majestätische Halle im Hauptquartier der 1818 gegründeten “Institution der zivilen Ingenieure” um die Ecke vom Big Ben. Hier lassen wir uns beim Schreiben vom vergoldeten Stuck, viktorianischen Kristallleuchtern und einem Deckenbild mit einer fliegenden Frau im Union-Jack-Gewand inspirieren. Sobald man die komfortable Arbeitsoase des Media Centre verlässt, wird man augenblicklich vom froh gelaunten Olympia-Wirbel fortgetragen. Die Londoner Spiele sind eine schweißtreibende, laute Symphonie aus Millionen Stimmen, Eindrücken und Erlebnissen. Wir alle sind Musiker, die täglich improvisieren. Ja, es ist manchmal ein Chaos, aber ein gut organisiertes Chaos.
“Arbeitsoase” London Media CentreWas haben uns all die Panikmacher und Pessimisten vor dem Olympiabeginn eingeschüchtert und ermahnt! Alles sollte schief gehen. Keines der Katastrophenszenarien ist bislang eingetreten. Dafür gibt es eine erstaunliche Transformation der Stadt, die ich kaum wiedererkenne. Je stärker London mit der konzentrierten, fröhlichen Energie des globalen Sportfestes pulsiert, desto mehr scheinen die sozialen Barrieren und die traditionelle englische Reserviertheit zu schmelzen. Alle reden mit allen, teilen Sportergebnisse mit, diskutieren Medaillenchancen, tauschen über den Verkehr aus. Niemand klagt, dafür wird oft gescherzt und gelacht.
Die Straßen sehen anders aus: ganz oder teilweise abgesperrt und autofrei. Ich kenne mich nach fünf Jahren in London eigentlich gut aus, doch das Navigieren von A nach B ist wegen der Umleitungen zur Detektivarbeit geworden. Man hört in der City ständig Hubschrauberlärm und sieht permanent Polizeiautos im Einsatz. Ein weiteres Gesetz von „London 2012“: Man ist nie mehr als 100 Meter von einem jener hilfsbereiten „volunteers“ entfernt, die die Besucher in die richtige Richtung leiten. Ganz schön praktisch, so ein Olympia: Die Touristen schalten das Denken ab und lassen sich treiben, während die in Pink gekleideten freiwilligen Helfer die Entscheidungen treffen: diese oder jene Straßenseite, an der Kreuzung links oder rechts. Nützlich auch, dass die fleißigen Helfer zur Not auch mal den tückischen Linksverkehr aufhalten, damit ein unachtsamer Chinese nicht unter den Rädern eines Doppeldeckers endet.
London 2012: Überall Militärs…Ein Merkmal des „anderen“ Londons sind auch die vielen Militärs, die die Eingänge zu den Sportstätten bewachen. Sie sind freundlich und locker. Vorgestern sah ich im St. James’s Park eine Militärkolonne zur Beachvolleyball-Arena marschieren. Hinten ging ein junger Soldat in Camouflage, auf dessen Rucksack der Sticker ISAF klebte – das sind die Nato-Tuppen in Afghanistan. Ich sah am Straßenrand eine Frau mit einem Blumenstrauß, die spontan eine Rose herauszog und sie dem jungen Mann lächelnd entgegenstreckte. Er nickte dankbar, wagte es aber nicht, das Geschenk anzunehmen. Ein paar Pensionäre klatschten Beifall. So bedanken sich die Briten bei ihren Armeeangehörigen, die nach dem Versagen der Sicherheitsfirma G4S in die Bresche gesprungen sind.
…die aber freundlich und locker sind.
Gestern bekam ich im Bahnhof King’s Cross ein Erdbeereis geschenkt. Einfach so. Die Mitarbeiter einer Bahnfirma teilen hier jeden Tag unter den Reisenden 15 000 Portionen Eis aus. Warum? „Sir, das gehört für uns einfach zum Olympischen Geist“, erklärte mir höflich einer der Angestellten. Mit dem Eis in der Hand blieb ich in der Bahnhofshalle an einem pinkfarbenen Klavier stehen. „Spiel mich“, stand darauf. Also klimperten zwei schwarze Mädchen und ein Junge sechshändig ein Phantasiestück. Die Menschen herum schmunzelten und warteten geduldig, um auch einmal eine Partie in der großen Londoner Olympia-Symphonie spielen zu dürfen.