Fusionsreaktor JET: Das Glühen rechts ist ein Zeichen der Kernschmelze. Foto: CSCEs gibt einen Ort in England, wo die Sonne immer scheint – auf Knopfdruck, etwa 30 Sekunden lang. Trotzdem ist ein Sonnenbad oder Picknick auf dem Rasen des Culham Science Centre (CSC) bei Oxford das Letzte, woran Dr. Matthias Brix denkt, wenn er jeden Morgen die riesige weiße Halle betritt, in die locker eine Boeing-737 hineinpassen würde. Der 44-jährige Physiker aus Wanne-Eickel gehört zum 400-köpfigen multinationalen Team von Forschern, die eine winzige Menge gasförmiges Deuterium (schwerer Wasserstoff) und Tritium auf eine unvorstellbare Temperatur von 100 Millionen Grad erhitzen, um eine Kernschmelze wie im Inneren des erdnächsten Sterns auszulösen. Dann sieht es im Inneren einer kringelförmigen Brennkammer so aus, als hätte jemand eine pinkfarbene Neonlampe eingeschaltet. (Video) Ein Flackern, dann ist die künstliche „Sonne“ wieder erloschen. Zum ersten Mal ist es genau vor 20 Jahren passiert: Am 9. November 1991 gelang es den Forschern am europäischen Experimentalreaktor JET (”Joint European Torus”) in Culham, die geheimnisvolle Fusionsenergie freizusetzen.
„Es könnte bis 2060 dauern, ehe diese Technologie in Kraftwerken zum Einsatz kommt. Aber dann werden die Menschen die Fusion als eine umweltfreundlichere Alternative zur Kernspaltung Tausende Jahre lang nutzen können“, sagt hoffnungsvoll Brix. Die Weltbevölkerung wächst und damit steigt ihr Energiehunger. Allerdings sind die Öl- und Gasreserven begrenzt, und es ist aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich, dass erneuerbare Quellen wie Wind, Sonnenstrahlen, Wasser oder Erdwärme jemals komplett den globalen Bedarf stillen könnten. Viele Experten sehen unter diesen Umständen eine große Zukunft für den High-Tech-Strom aus dem Sonnenfeuer, der im Jahr 2100 mehr als 20 Prozent der weltweiten Energieerzeugung betragen könnte.
Dr. Matthias Brix erforscht in Culham das “Sonnenfeuer”. Foto: almAuf dem Rundgang durch die Labors bleibt Matthias Brix vor einem Fenster stehen, das den Blick in einen kreisrunden Raum mit metallischen Wänden und einer Säule in der Mitte erlaubt. Im Nachbau der Fusionskammer trainieren die Ingenieure die komplizierte Steuerung des Plasmas. Um die Ecke ist der echte Reaktor, den man im Gewirr von Rohren kaum ausmachen kann. Der JET ist ein Gemeinschaftswerk der EU-Staaten und die größte Experimentalanlage dieser Art auf der Welt. Als sie 1997 einen Energieimpuls von 16 Megawatt produziert hat, waren viele Wissenschaftler aus dem Häuschen: Es war der Beweis dafür, dass die Menschen den Antrieb der Sterne für ihre Zwecke nutzen können.
„Im JET werden die Wasserstoff-Ionen so aufeinander gestoßen, dass sie zu Helium verschmelzen“, erklärt Brix. Die freigesetzten Neutronen fliegen in die Lithium-Verkleidung der Brennkammer und heizen sie auf. Entsprechend heiß wird das Wasser in den dahinter verlaufenden Rohrleitungen, welches in einem späteren Kraftwerk die Turbinen antreiben und Strom erzeugen soll. Klingt einfach – tatsächlich ist jedoch die Fusion extrem kompliziert. „Um die abstoßende Kraft der positiven Ladungen zu überwinden, müssen die Atomkerne schnell sein“, sagt Brix, „darum erzeugen wir ein Vakuum von einem Millionstel der Atmosphäre und sprühen 0,01 Gramm Gas hinein, das auf das Zehnfache der Temperatur in der Sonne erhitzt wird“. Ein starkes Magnetfeld isoliert im so genannten Tokamak die Plasma und hält sie in der Schwebe. Es sind diese Supermagnete, die viel Strom schlucken – der JET verbraucht pro Experiment 20 bis 30 Megawatt.
„Es ist für uns kein Problem, die Fusion auszulösen. Die Herausforderung besteht darin, sie ökonomisch zu machen“, erklärt Brix. JET bereitet derzeit die Grundlagen für einen größeren Forschungsreaktor ITER, der noch in diesem Jahrzehnt in Frankreich in Betrieb gehen soll. Dank der effizienteren supraleitenden Magnete und besseren physikalischen Eigenschaften soll ITER zehnmal mehr Energie erzeugen als für seinen Betrieb notwendig ist, und das bis zu zehn Minuten lang. Die gewaltigen Kosten für dieses Gemeinschaftsprojekt (EU, USA, China, Russland, Indien, Japan und Südkorea) betragen alleine für die Europäer sieben Milliarden Euro. Bewährt sich ITER, wollen die Forscher bis 2030 den ersten Prototyp eines vollwertigen Fusionskraftwerks bauen.
Außenansicht des europäischen Fusionsreaktors JET. Foto: CSCDie neue Art von Atomenergie sei viel sicherer als die alte Kernkraft, erklärt Andrew Kirk, der am britischen Fusionsprojekt MAST arbeitet. „Der ganze Treibstoff in einem Fusionsreaktor wiegt so viel wie eine Briefmarke. Würde in einem Katastrophenfall ein Flugzeug auf solch ein Kraftwerk stürzen, gäbe es vielleicht einen Tritium-Austritt ins Gebäude. Aber schon einige Hundert Meter weiter würde man keine Radioaktivität mehr messen können“. Der zweite Vorteil: Bei größeren Störungen in der Brennkammer wird das Plasma sofort ausgelöscht und die Fusion stoppt. Schließlich belasteten die Fusionsreaktoren die Umwelt weniger, sagt der Physiker Brix. „Es gibt keine Abfälle in Form von abgebrannten Brennstäben. Einzig die Innenwände des Reaktors sind ein Problem, doch ihre Strahlenbelastung würde nach 50 bis 100 Jahren so weit abklingen, dass man daraus ein neues Kraftwerk bauen könnte“.
Das Energiepotenzial der Fusion sei riesig, versprechen die Wissenschaftler. So gebe es in einem Liter Wasser genug Deuterium, um bei der Verschmelzung mit Tritium die Energiemenge von 500 Litern Benzin zu produzieren. Anders gerechnet: Der Energiebedarf eines Durchschnittseuropäers wäre für 30 Jahre gedeckt, wenn man die Lithiummenge aus einem Laptop-Akku mit einer halben Badewanne Wasser fusionieren könnte.