Der Tower of London. Nur wenige Touristen dürfen ihn nachts besuchen. Fotos: almAlle Jahre wieder: Die vorweihnachtlichen Berichte über das Ableben des „Christmas Pudding“. Nur noch 29 Prozent der Briten wollen am „Boxing Day“ die schwere Süßspeise mit Brandy übergießen und sie angezündet auf dem Tisch flackern lassen, ehe sie gegessen wird. Fast alle meine Londoner Freunde stehen mittlerweile auf deutschen Stollen, italienisches Eis oder belgische Pralinen. Die kulturellen Folgen der Puddingmisere dürften die Queen bekümmern: Schließlich geht eine urenglische Tradition vor die Hunde. Sehr überraschend ist das nicht. Das Land, in dem Mohammed 2009 zum beliebtesten Jungennamen geworden war, kann dem kulturellen Wandel durch die Globalisierung wenig entgegen setzen. Zum Glück hat das Königreich noch einige schöne Bräuche behalten.
Zum Jahresabschluss meine fünf Lieblingszeremonien, die das Leben in England auch 2011 „very british“ machen werden. Platz Eins: das stoische Picknicken in jeder Lebenslage, am Strand, auf dem Parkplatz und im Theater, bei Orkanen und im Schneegestöber. Platz Zwei: der gute alte Nachmittagstee – formell, luxuriös oder improvisiert. Das drittschönste Ritual ist die Eröffnung des Parlaments durch die Königin, deren Boten die Tür ins Gesicht geschlagen werden muss. Sonst macht es Ihrer Majestät keine Freude, das Programm „Ihrer Regierung“ zu verlesen. Nummer Vier ist das Schwänezählen im Juli. Es gibt keine besseren Entschuldigung, um stehend in einem wackeligen Ruderboot an der Windsor-Schleuse mit einem „Schwur der Loyalität“ für die „Lehnsherrin der Schwäne” (die Königin) bitteres Ale zu trinken. Nummer Fünf in meiner Hitliste der Traditionen ist ein 35-minütiges „Schlüssel-Ritual“ in der Londoner Innenstadt, das die „älteste militärische Zeremonie der Welt“ ist.
Seit sieben Jahrhunderten die gleiche Show in der Londoner FestungSeit 750 Jahren jede Nacht die gleiche Show im Tower, wo die Kronjuwelen hinter den dicken Festungsmauern sicher eingeschlossen werden – egal, was in der Welt passiert. Sie können sicher sein: Selbst wenn der Big Ben umfiele oder ein Meteorit den Buckingham-Palast zerstörte, würde die „Ceremony of the Keys“um genau 21.53 Uhr beginnen. Jeder kann sie sehen nach vorheriger Anmeldung und oft nach monatelanger Wartezeit. Neulich habe ich auf Einladung der Stiftung Königliche Paläste dieses antike Schauspiel bewundert.
Es ist kalt und es regnet, doch in der 40-köpfigen Besuchergruppe verzieht keiner das Gesicht. Ein „Beefeater“ erklärt uns die Regeln: Keine Fotos, keine Handys und im richtigen Moment gemeinsam „Amen“ rufen. Dann geht es los. Sieben vor zehn marschiert der Chief Yeoman Warder mit einer brennenden Kerze und einem großen Schlüsselbund zum Tor des Towers, um es zu schließen. Der Mann im roten Waffenrock der Tudors wird begleitet von einer Eskorte, die auf dem Rückweg die Aufmerksamkeit eines Wachmanns am „Verräter-Tor“ auf sich zieht. „Halt! Wer geht dort?“ brüllt der Wachmann mit Karabiner im Anschlag. „Die Schlüssel“, brüllt der Warder zurück. „Wessen Schlüssel?“ ruft der Wachmann in die Nacht. Die Antwort: „Die Schlüssel von Queen Elizabeth“. Damit gibt sich der strenge Soldat zufrieden. „Die Schlüssel von Queen Elizabeth können passieren. Alles ist gut“, ruft er abschließend. Es folgt eine Mini-Parade von stampfenden und Waffen schwenkenden Soldaten, die vom Ruf „Gott schütze Königin Elizabeth“ gekrönt wird. An dieser Stelle schreiben wir laut: “Amen“. Mit dem Hornisten-Signal „Last Post“ um Punkt Zehn zieht sich die Garnison in die Kaserne zurück.
“Halt! Wer geht dort?” In der Water Lane findet das Ritual statt (man darf es nicht fotografieren)
Die „Beefeater“ lieben es, diese Geschichte zu erzählen: Seit dem Mittelalter haben sie sich mit der „Ceremony of the Keys“ nur einmal verspätet. Es geschah am 16. April 1941, als ein deutsches Flugzeug versehentlich eine Bombe über dem Tower abwarf. Nachdem die Wachen wieder zu Besinnung gekommen waren und ihre Uniformen gesäubert hatten, setzten sie ungerührt das Ritual fort – leider neun Minuten zu spät. Am nächsten Tag lag auf dem Tisch des Königs George VI. ein Entschuldigungs-Schreiben mit dem Schwur, es würde nie wieder passieren. „Seine Majestät war so freundlich, uns zu vergeben“, sagen erleichtert die Militärs, die ihr Wort gehalten haben.
P.S.: Ich werde einen Christmas-Pudding essen! FROHE WEIHNACHTEN!