„Ihr seid alle Faschisten“, ruft ein junger bärtiger Student, der von den Sicherheitsleuten zum Ausgang des Fünfsternehotels Waldorf Hilton im Londoner „Theaterland“ gedrängt wird. Dabei hat die deutsche „Integrationsdebatte“ an der Themse mit Thilo Sarrazin noch nicht einmal begonnen.
Die Deutschen haben bei den Briten den Ruf, ordentlich, humorlos und verbissen zu sein. So war es vielleicht kein Zufall, dass sich zur kontroversen Eröffnungsveranstaltung des offenen „Deutschen Symposiums“ in London am Montagabend nur ein Häufchen Engländer zusammengefunden hatte. Es gibt auch im Inselkönigreich eine (schwächer ausgeprägte) Diskussion über die Chancen und Gefahren der Einwanderung. Vor allem in Wahlzeiten versäumen es die Boulevardblätter nie, die Migranten zu Sündenböcken für das vermeintliche Scheitern der britischen Wohlstandsgesellschaft zu machen. Doch käme in der multikulturellsten Metropole der Welt kaum jemand auf die Idee, aus den Integrationsproblemen den „Untergang des Abendlandes“ abzuleiten – wenn auch mit Fragezeichen. So lautete das Thema der Gesprächsrunde, zu der die Deutsche Studentenvereinigung an der renommierten London School of Economics (LSE) neben Thilo Sarrazin die Publizisten Henryk M. Broder und Hellmuth Karasek und den Vorsitzenden des deutschen Islamrats, Ali Kizilkaya, eingeladen hat.
Obwohl die britische Presse vom „Wirbelsturm des Ärgers“ bei den „krauts“ über den Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ berichtet hat, konnten bislang nur wenige Briten etwas mit dem Namen seines Autors anfangen. Das könnte sich jetzt ändern. Denn kaum war der streitbare Sarrazin in London angekommen, schon hatte der 66-jährigen Deutschen einen Mini-Wirbelsturm ausgelöst.
Die Zeichen stehen auf Sturm am Montag. Vor der LSE-Veranstaltung haben Linke zu einer Protestdemo gegen den Mann mit „widerlichen, rassistischen, antisemitischen und islamfeindlichen Ansichten“ aufgerufen. Im „Independent“ bittet eine „Antifaschistin“ die britische Regierung darum, den Ex-Banker von der Insel zu deportieren und nie wieder hineinzulassen. Bis zum Abend haben 100 deutsche Wissenschaftler in London einen Protestbrief an die LSE unterzeichnet mit der Forderung, die Debatte mit Sarrazin abzusagen, der alle Muslime als „Schwachköpfe“ bezeichnet haben soll.
Keine einfache Premiere im Mutterland der Demokratie für den erfolgreichen Sachbuch-Polemiker. Die eingeladenen Integrationstheoretiker müssen sich noch mehr wundern, als ihnen vor Beginn der Debatte plötzlich eine Gruppe mit dem Namen „Freie Meinungsäußerung“ den Zutritt zum LSE-Hörsal verwehrt. Um einen Konflikt zu vermeiden, weichen einige Hundert Zuhörer „aus Sicherheitsgründen“ ins Waldorf Hilton aus. Dort will zunächst ein Student eine Erklärung der Veranstalter zur brisanten Diskussion abgeben. Er kommt jedoch nicht zu Wort. „Faschisten“, schreit verärgert der junge Mann.
Deutschland schafft sich wieder ab – diesmal in London. Da die brisante Diskussion nicht auf deutschem Boden geführt werden muss, verabschiedet sich die Runde schnell von Politkorrektheit. Sarrazin wettert gegen „falsche Türken“ in Deutschland, die nur hinter der Sozialhilfe her seien, die es in ihrer Heimat nicht gebe. Mit dem Argument, dass auch die Hindus in Deutschland keine Witwen verbrennen dürften, spricht Henryk Broder den Muslimen in Berlin das Recht auf Gebetsräume in den Schulen ab. „Die Vielfalt der Kulturen ist eine Bereicherung, Monokulturen sind langweilig“, widerspricht Ali Kizilkaya. „Die Einwanderung stellt unsere Identität in Frage“, beharrt Sarrazin. „Deutschland, das ich liebe, schafft sich ab – so wie dieser Winter unaufhaltsam vergeht“.
Europa sei verloren, glauben die Experten auf der Bühne. Denn die Muslime wollten und könnten sich nicht integrieren, was „objektive Spannungen“ verursachen werde. Später in der Debatte wird Hellmuth Karasek vor dem „Untergang des Abendlandes“ kapitulieren: „Ich bin so alt, das Schlimmste werde ich nicht mehr erleben“. Er habe sich bereits eine Burka gekauft, eröffnet Broder: „Sie liegt in meinem Wäscheschrank“. Die Diskrimination der Minderheiten sei etwas ganz Normales, hören die teils verblüfften, teils erbosten Zuschauer von deutschen Gästen. „Warum muss ich mich assimilieren, meine Kultur aufgeben, die Identität verlieren, in der Mehrheit aufgehen?“ Am Ende bleibt dieser Aufschrei des Islamvertreters Kizilkaya unbeantwortet.
